Für eine Vielfalt des kulturellen Erbes
Zur Rolle und den Aufgaben der Denkmalpflege am Beispiel von St. Gallen
Von Matthias Fischer und Klaudia Fryckowska, Denkmalpflege Stadt St. Gallen
Bulletin 4/2025 – Eine Zukunft für wessen Vergangenheit?, 10. Dezember 2025Wie kann die Denkmalpflege der gesellschaftlichen Vielfalt, dem Kulturerbe der «Anderen», der Minderheiten oder der Menschen ohne Lobby gerechter werden? Mit einem «Weg der Vielfalt» hat die Stadt St. Gallen den Diskurs um Denkmalwerte und die Sammlung bedeutsamer Orte erweitert.
Die Stadt St. Gallen blickt auf eine über tausendjährige Vergangenheit zurück, wobei die erhaltene Bausubstanz vorwiegend aus der Zeit nach dem letzten grossen Stadtbrand von 1418 stammt. Viele Bauwerke, die für das heutige Stadtbild wichtig sind und zum baukulturellen und kunstgeschichtlichen Erbe gehören, zeugen vom jeweils zeittypischen Umgang der Mehrheitsgesellschaft mit dem ihr Fremden.
Initiiert von einem Postulat im Stadtparlament wurde unter Leitung einer interdisziplinären Fachgruppe und unter Mitwirkung der Bevölkerung ein «Weg der Vielfalt» erarbeitet. Er macht Orte sichtbar, die nicht nur von Gerechtigkeit, Engagement und Menschenrechten erzählen, sondern auch von Rassismus, Ausgrenzung und Kolonialismus. Manche dieser Orte stehen für mutiges Eintreten für Mitmenschen – andere erinnern an dunkle Kapitel der Stadtgeschichte. Im Frühjahr 2025 wurden die Ergebnisse auf einer Online-Plattform öffentlich aufgeschaltet. Unter www.wegdervielfalt.ch findet man eine interaktive Karte mit aufbereiteten Zusatzinformationen.

Turnhalle Kreuzbleiche in St. Gallen. 1944 wurden mit dem sogenannten «Kasztner-Transport» 1368 jüdische Gefangene aus dem KZ Bergen-Belsen befreit und in die Schweiz gebracht, wo sie zuerst unter anderem in der Turnhalle Kreuzbleiche Aufnahme fanden. © Staatsarchiv Aargau, Bildarchiv Ringier, StAAG/RBA1-10-77_8
Neue Sicht auf den Bestand
Über diesen vom Postulat ausgehenden Auftrag hinaus widmete sich die Fachstelle Denkmalpflege der weiterführenden Informationsvermittlung im Kontext des 50-Jahre-Jubiläums des Denkmalschutzjahres 1975. Neben Vorträgen und Führungen in Zusammenarbeit mit Partnerinstitutionen bildete die Jahresausstellung der Denkmalpflege unter dem Titel «Denkmal anders» im April/Mai 2025 einen Schwerpunkt. In der Vorbereitung der Ausstellung zeigte sich bei der Auseinandersetzung mit dem «Weg der Vielfalt», dass die darin enthaltenen Erinnerungsorte in der aktuellen denkmalpflegerischen Kategorisierung ganz unterschiedlich behandelt werden. Anhand einzelner Beispiele wird deutlich, dass zahlreiche Bauten des «Wegs der Vielfalt» zwar inventarisiert oder geschützt sind, aber nicht wegen der darin beschriebenen Themen der belasteten Vergangenheit, sondern in erster Linie wegen ihrer baukünstlerischen Bedeutung. Nur wenige sind aufgrund der sozialgeschichtlichen Bedeutung inventarisiert, insbesondere wenn es sich um Errungenschaften von Minderheiten handelt, während andere (noch) nicht geschützt oder inventarisiert sind.
Einseitigkeit überwinden
Es lässt sich nun fragen: Was kann, soll oder muss die Denkmalpflege tun, um der gesellschaftlichen Vielfalt, dem «Erbe der Anderen», der Minderheiten oder der Personen ohne Lobby gerechter zu werden? Ziel und Hauptaufgabe sind der Erhalt und die Pflege von historischen Kulturgütern für zukünftige Generationen. In der Praxis sind es vornehmlich Baudenkmäler von besonderem kulturellen Zeugniswert. Das heisst, schützenswert ist etwas, das von besonderer historischer, gesellschaftlicher, wissenschaftlicher, künstlerischer, architektonischer, handwerklicher, siedlungs- oder landschaftsprägender Bedeutung ist. Wenn das Erbe der «Anderen» besser berücksichtigt werden soll, so sind diese Kategorien nicht unbedingt zu erweitern, aber differenzierter und umfassender auszulegen.
Die Inventare der Denkmalpflege werden periodisch erneuert, und die Festlegung von Schutzmassnahmen ist letztlich immer ein politischer Akt. Im fachlichen Inventarisierungsprozess werden die denkmalpflegerische Bedeutung oder die Schutzwürdigkeit heute noch zu oft einseitig an architektonischen Gesichtspunkten festgemacht, oder es werden Gebäude nicht geschützt oder inventarisiert, weil sie etwa verschiedene bauliche Veränderungen erfahren haben. Indes kann die historische Bedeutung, die man ihnen nicht ansieht, für sich allein schon denkmalbegründend sein.

«Haus zum Mohrenkopf» in der Spisergasse 20. Aus der Diskussion zum Umgang mit «belastetem Erbe» entstand in der Stadt St. Gallen der «Weg der Vielfalt». © Denkmalpflege Stadt St. Gallen
Vielfalt repräsentieren
Bei der nächsten Aktualisierung des Inventars der schützenswerten Bauten könnte also die Bevölkerung im Allgemeinen – aber gerade auch Bevölkerungsgruppen als Vertretende von bisher unterrepräsentierten Beständen im Inventar – stärker miteinbezogen werden. Ähnlich wie beim Workshop zum «Weg der Vielfalt» kann gefragt werden, welche Gebäude für verschiedene Bevölkerungsgruppen identitätsstiftend und deshalb als kulturhistorische Zeugnisse zu erhalten seien.

Das Volkshaus in der Lämmlisbrunnstrasse 41 in St. Gallen, erbaut 1898, ist eines der wenigen erhaltenen Volkshäuser in der Schweiz und ein Denkmal der Arbeiterbewegung. © Archiv Denkmalpflege Stadt St. Gallen.
Es geht aber nicht nur darum, bestehende Inventare zu erweitern, sondern auch bereits geschützten Objekten einen erweiterten Denkmalwert zuzuschreiben. So ist etwa die Turnhalle Kreuzbleiche nicht bloss ein Zeugnis für den aufkommenden Sportunterricht im frühen 20. Jahrhundert, sondern auch ein Erinnerungsort für die Flüchtlingsgeschichte im Zweiten Weltkrieg.
Baudenkmäler erzählen Geschichten, und es ist die Aufgabe der Denkmalpflege, diese Geschichten ganzheitlicher zu erzählen als bisher – und damit sowohl die positiven wie auch die negativen Aspekte aus der Historie eines Gebäudes, eines Ortes, zu beleuchten.